6.8. Stetig fortsetzbare Funktionen
Bei einer in a stetigen Funktion f läßt sich der Wert bereits durch die Werte in der Nähe von a berechnen. Interessanterweise ist es für diese Berechnung ohne Bedeutung, ob tatsächlich existiert, ob also a zum Definitionsbereich von f gehört oder nicht.
Unter bestimmten Umständen eröffnet diese Beobachtung die Möglichkeit, Funktionen zusätzliche Werte zuzuordenen!
Definition: a sei Häufungspunkt von . Eine Funktion heißt stetig fortsetzbar in a, falls es eine in a stetige Funktion
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[6.8.1] |
gibt, so dass
i |
d.h. für alle .
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. Jede Funktion g dieser Art nennen wir eine stetige Fortsetzung von f in a.
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Beachte:
In aller Regel wird die Situation vorliegen. Dies entspricht auch der eigentlichen Idee, Funktionen in geeigneter Weise einen zusätzlichen Funktionswert zukommen zu lassen. Dennoch ist der Fall in unserer Definition nicht ausgeschlossen. Hier allerdings sind die Verhältnisse leicht zu überblicken:
f ist in a stetig fortsetzbar f ist in a stetig
Und da jetzt , ist f selbst eine stetige Fortsetzung von f.
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Im Fall ist es daher sinnvoll, unseren Begriff geeignet zu modifizieren: Eine Funktion heißt in stetig ersetzbar, falls in a stetig fortsetzbar ist.
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Wir führen unsere Überlegungen zur stetigen Fortsetzbarkeit nur an Häufungspunkten durch. Wäre nämlich a kein Häufungspunkt von A, so ließe sich jede Funktion in a stetig fortsetzen, und zwar auf jede beliebige Weise.
Da in jeder Umgebung eines Häufungspunkts Funktionswerte von f zur Verfügung stehen, kann man die Eindeutigkeit einer stetigen Fortsetzung nachweisen.
Bemerkung und Bezeichnung: Jede Funktion besitzt in einem Häufungspunkt a von A höchstens eine stetige Fortsetzung. Ist f in a stetig fortsetzbar, so nennen wir die eindeutig bestimmte Zahl
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[6.8.2] |
den Limes (oder auch den Grenzwert) von f in a.
Beweis: Wären zwei verschiedene stetige Fortsetzungen von f in a, so hätte man zunächst für alle :
Da a ein Häufungspunkt von A ist, gibt es mindestens eine Folge in , die gegen a konvergiert. Die Stetigkeit der beiden Fortsetzungen erzwingt daher
Also hat man, im Widerspruch zu ihrer Verschiedenheit, .
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Beachte:
Ist in a stetig, also insbesondere , so ist
denn, wie oben erwähnt, ist f in diesem Fall stetige Fortsetzung von sich selbst.
In einer ersten Beispielgruppe betrachten wir die Polynomquotienten und untersuchen ihre stetige Fortsetzbarkeit in den Nullstellen des Nennerpolynoms. Das folgende Kriterium erleichtert eine solche Untersuchung erheblich.
Bemerkung (Nullstellenkriterium): Es sei ein Polynomquotient und a eine Nullstelle k-ter Ordnung des Nenners q, also mit . Dann gilt:
f ist in a stetig fortsetzbar
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a ist Nullstelle des Zählers p von mindestens k-ter Ordnung
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[6.8.3] |
In diesem Fall läßt sich die stetige Fortsetzung durch Polynomdivision und anschließendes Kürzen berechnen.
Beweis: Wir bezeichnen den Definitionsbereich von f mit A, und zeigen zunächst, dass a ein Häufungspunkt von A ist:
Aus Stetigkeitsgründen ist r, und damit auch q, in einer ganzen Umgebung von a von Null verschieden.
q ist also nicht das Nullpolynom und hat somit nur endlich viele Nullstellen, etwa , so dass es eine Umgebung von a gibt, die keine weiteren Nullstellen von q enthält:
.
etwa ist daher eine Folge in , die gegen a konvergiert.
Nun zur eigentlichen Äquivalenz:
"": Sei g stetige Fortsetzung von f in a. Für alle ist dann
,
so dass sich a als mindestens k-fache Nullstelle von p erweist.
"": Ist etwa , so ist die Funktion eine stetige Fortsetzung von f in a, denn:
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g ist als Polynomquotient stetig in a
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für alle
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Wir üben das Nullstellenkriterium an einigen Beispielen:
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ist in der (einfachen) Nennernullstelle 1 stetig fortsetzbar, denn 1 ist auch Nullstelle des Zählers. Die stetige Fortsetzung erhält man durch Kürzen aus der faktorisierten Darstellung
und damit den Grenzwert .
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ist in 2 nicht stetig fortsetzbar, denn 2 ist keine Nullstelle des Zählers.
-
ist in der doppelten Nennernullstelle 3 stetig fortsetzbar, denn 3 ist auch doppelte Zählernullstelle. Aus der stetigen Fortsetzung ergibt sich der Grenzwert
-
ist in 0 nicht stetig fortsetzbar, denn die doppelte Nennernullstelle 0 ist nur einfache Zählernullstelle.
Aufgabe: Welche der folgenden Polynomquotienten sind in den Nullstellen des Nenners stetig fortsetzbar, welche nicht? Welche Grenzwerte treten dabei auf?
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?
Die einfache Nennernullstelle −3 ist auch Zählernullstelle. Also ist dieser Quotient in −3 stetig fortsetzbar und hat dort den Grenzwert ?
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-
?
0 ist Nullstelle des Nenners, aber nicht des Zählers! Der Polynomquotient ist daher in 0 nicht stetig fortsetzbar. In der doppelten Nennernullstelle 2 dagegen ist die Funktion stetig fortsetzbar, denn 2 ist auch doppelte Nullstelle des Zählers. Hier errechnet sich der Grenzwert zu ?
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-
?
1 ist doppelte Nullstelle des Nenners, aber nur einfache Nullstelle des Zählers. Also existiert der Grenzwert in 1 nicht.
−1 ist einfache Nullstelle des Nenners und ebenfalls einfache Nullstelle des Zählers. Der Quotient ist also in −1 stetig fortsetzbar mit dem Grenzwert ?
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Bei beliebigen Funktionen ist es in der Regel deutlich schwerer, das Grenzwertverhalten zu bestimmen. Das folgende Kriterium liefert einen technischen Zugang, wie man eine solche Untersuchung beginnen könnte.
Bemerkung (Folgenkriterium): sei irgendeine Funktion, a ein Häufungspunkt von und . Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:
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f ist in a stetig fortsetzbar und
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[6.8.4] |
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für jede Folge in A gilt: |
Beweis:
"": Sei g stetige Fortsetzung von f in a. Für eine beliebige Folge in A mit hat man dann: .
"": Wir müssen eine stetige Fortsetzung von f in a konstruieren. Dazu setzen wir für :
Für den Fall ist die Gleichheit evident. Falls , ist dazu nachzuweisen. Dies aber ergibt sich sofort, wenn man in [6.8.4] die konstante Folge wählt.
Wir zeigen nun, dass g in a stetig ist. Sei dazu eine Folge in , die gegen a konvergiert. Da nicht gewährleistet ist, dass alle Folgenglieder von a verschieden sind, läßt sich die Voraussetzung nicht unmittelbar anwenden. Wir unterscheiden daher zwei Fälle:
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Es gibt ein so dass für alle . Für diese n ist dann aber auch , also weiß man: .
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Zu jedem gibt es ein , so dass . In diesem Fall modifizieren wir die Folge , indem wir jedes Folgenglied vom Wert a durch das nächste, von a verschiedene Folgenglied ersetzen. Die Folge , wobei
,
ist dann eine Folge in A, die ebenfalls gegen a konvergiert: Da , gibt es zu jedem ein , so dass für alle . Gemäß Konstruktion ist , also gilt für alle erst recht:
Nach Voraussetzung wissen wir damit: . Zu findet man also ein , so dass
Für diese k gilt daher: , so dass auch die Konvergenz , und damit die Stetigkeit von g in a bestätigt ist.
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Wir üben das Folgenkriterium an zwei Beispielen. Das erste beweist zugleich, dass sich das Nullstellenkriterium [6.8.3] nicht auf beliebige Quotienten übertragen läßt.
Beispiel:
ist in 0 nicht stetig fortsetzbar, denn z.B. ist , aber die Folge
ist divergent.
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[6.8.5] |
Beweis: Sei . Wir dürfen dabei o.E. annehmen, so dass
für alle [1]
Wir benutzen die Darstellung der Sinusfunktion aus [5.9.19]. Für ein festes n und beliebiges schätzen wir zunächst folgendermaßen ab:
Da die Betragsfunktion stetig ist, bleibt diese Abschätzung auch für den Limes () gültig:
so dass wir mit dem Schachtelsatz [5.5.8] das gewünschte Ergebnis erhalten:
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Mit der stetigen Fortsetzbarkeit haben wir in erster Linie eine Methode entwickelt, geeigneten Funktionen einen zusätzlichen Wert zuweisen zu können. Aber auch ein weiteres Problem, nämlich die Frage unter welchen Bedingungen sich zwei Funktionen an einer Stelle stetig verkleben lassen, können wir mit diesem Konzept lösen.
Definition: und seien zwei Funktionen mit und .
Die Funktion gegeben durch
heißt die Verklebung von f und g. |
[6.8.7] |
Wir sagen f und g sind in a stetig verklebbar, falls in a stetig fortsetzbar ist.
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[6.8.8] |
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Beachte:
Da f und g auf übereinstimmen, ist die Verklebung durch [6.8.7] wohldefiniert.
Die stetige Verklebbarkeit zweier Funktionen wird allein durch ihr Grenzwertverhalten in a bestimmt.
Bemerkung: und seien zwei Funktionen mit , a ein Häufungspunkt sowohl von A wie auch auch von B. Dann gilt:
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f und g sind in a stetig verklebbar |
| f und g sind in a stetig fortsetzbar und |
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[6.8.9] |
Beweis: Zunächst beachte man, dass a als Häufungspunkt von A (bzw. B) erst recht ein Häufungspunkt von ist.
"": Ist in a stetig fortsetzbar, so gilt dies nach [6.9.1] auch für und mit den Grenzwerten
.
"": Sei stetige Fortsetzung von f und stetige Fortsetzung von g in a. Da
ist die Verklebung wohldefiniert und . Wir zeigen, dass in a stetig ist: Zu gibt es , so dass
Mit gilt damit für :
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